INTERVIEW UND TEXT VON NATASCHA GERISCH
Mark S. Damals hatte ich bereits verschiedene Institutionen kennengelernt, aber ich hielt es nirgends länger aus und haute wieder ab. So stürzte ich erneut heftig ab. Ich war sehr verzweifelt und mir wurde bewusst, dass ich etwas ändern musste. So entschied ich mich, eine stationäre Suchttherapie zu suchen. Da ich bereits zu jener Zeit gläubig war, wollte ich eine christliche Therapie machen. Deshalb kam ich hierher nach Bern.
Mark S. Schnell war klar, dass es mir in der Grofa gefiel. Denn diese Gruppengemeinschaft mit dem Wir-Gefühl, auch das persönliche und wohlwollende Engagement der einzelnen Teammitglieder das gab mir wieder Boden unter den Füssen. Zudem haben mir der geregelte Tagesablauf und die klaren Strukturen gutgetan. Dazu gehörte die Arbeit rund um das Haus und im Garten mit dem Arbeitspädagogen Housi. Da fühlst du dich sofort zuhause.
Patricia D. In der Zeit, als ich in der Muschle war, war Religion kein Thema mehr. Ich bin nicht gläubig, ich bin Atheistin. Aber auch ich fühlte mich sofort wohl und akzeptiert. Diese warme, persönliche Atmosphäre half mir mich zu entscheiden. Denn am Schnuppertag war ich schlecht zwäg. Ich hätte mit Housi das Turmzimmer streichen sollen. Aber stattdessen haben wir eine Stunde lang miteinander gesprochen. Danach sagte ich zu. So begann ich mit 40 Jahren meine erste Therapie.
Mark S. Neben dem bereits Gesagten war damals die christliche Gemeinschaft wichtig: Wir lasen morgens die Bibel und sangen Lieder. Da habe ich Gitarre spielen gelernt, was ich heute noch ab und zu für meine Töchter tue. Man durfte bei Bedarf auch ein Gebet in Anspruch nehmen. Den Tag durch arbeiteten wir in verschiedenen Bereichen. Die Regeln waren streng: Der Zigarettenkonsum wurde auf 10 Stück pro Tag beschränkt. Wir durften kein Radio hören, fernsehen nur in der Gruppe. Dahinter steckte die Idee, das gemeinschaftliche Erleben und nicht den Rückzug zu fördern. Das fand ich in Ordnung. Aber worüber wir viel diskutierten war der Ausgang. Ein halbes Jahr nur in Begleitung nach draussen gehen zu dürfen, fiel mir schwer. Das war mir zu lange.
Patricia D. Die Regeln in der Muschle waren anders: Auch wir hatten gemeinsame Essenszeiten. Und übernahmen ein Ämtli wie waschen, putzen, im Garten oder in der Küche helfen. Aber unsere Regeln waren weniger streng. Auch bei uns gab es im ersten Monat nur in Begleitung Ausgang. Und damit hatte ich schon Mühe. Aber im Nachhinein finde ich es gut. Dadurch fühlte ich mich geschützt und konnte mich innerlich festigten. Denn anfangs war ich labil und fühlte mich hin- und hergerissen. Da wäre ich wohl sofort losgerannt.
Patricia D. Ich fand die Trennung der Geschlechter gut und habe mich bewusst dafür entschieden. Für mich war es wichtig, nur von Frauen und Kinder umgeben zu sein. Ich habe selbst häusliche Gewalt erlebt mit dem Vater meiner Tochter. Während der Therapie kommen derart viele Gefühle hoch. Da war ich froh, konnte ich mich auf diese Emotionen konzentrieren und wurde ich nicht durch Männer abgelenkt. Verlieben ist ja toll und positiv. Aber vielleicht ist man diesen Gefühlen noch nicht gewachsen. Das kann dich aus dem Konzept bringen.
Mark S. Auch ich finde diese Trennung gut. Dass du die Gefühle, die du entwickelst, nur mit Männern teilst. Denn wenn Frauen da wären, würde das alles zugedeckt. Den Sinn erkenne ich im Nachhinein, als ich mitten drin war, fand ich es weniger toll.
Patricia D. Die Therapie war der Beginn von Allem wegzukommen. Zuerst musste ich die körperliche Entwöhnung aushalten. Danach lernte ich mein Selbstwertgefühl aufzubauen und mir nicht zu viele Vorwürfe wegen meiner Tochter zu machen. Zum Glück macht sie mir bis heute wenig Vorwürfe. Darüber bin ich froh. In der ganzen Zeit wo sie fremdplatziert war, pflegten wir einen guten Kontakt zueinander. In der Therapie lernte ich auf mich zu hören und achtzugeben. Genauer und bewusster hinzusehen. Nicht zu vertuschen oder geheim zu halten. Darin sind wir ja Spezialisten. Auch die Gespräche waren wichtig, mich mitteilen und für mich einstehen können. Das machte mich selbstsicherer. Was ich im Umgang mit den Ämtern bemerkte.
Mark S. Oh, das sind einige. Während diesen Monaten bekam ich die Möglichkeit, meine Stärken und Schwächen besser einzuschätzen und zu mir zu stehen. Auch habe ich gelernt, dass Scheitern zum Leben gehört. Seither bin ich eine gefestigtere Persönlichkeit und werde nicht mehr so schnell aus der Bahn geworfen. Meine Lebenseinstellung ist deutlich positiver.
Patricia D. Auch ich habe Mut gebraucht zu meinen Schwächen zu stehen. Ich lernte besser Nein zu sagen und grenze mich gegenüber dem eigenen Leistungsdruck und den gesellschaftlichen Erwartungen ab. Ferner überfordere ich mich weniger, sondern frage nach den eigenen Bedürfnissen. Ausserdem verdränge ich nicht mehr, trage Konflikte aus und suche eine passende Lösung.
Patricia D. Während der Therapie habe ich alte Hobbies wiederentdeckt. Zum Beispiel Sport, den ich bis zwanzig intensiv ausübte. Durch den Kontakt mit Alkohol und Drogen während der Ausbildung, der Banklehre, bewegte ich mich weniger. Das tat mir nicht gut. Deshalb habe ich den Sport wieder aufgenommen. Ich mag die Berge und das Wandern. Um meine Fitness zu testen, unternahm ich im letzten Sommer eine Hochalpin-Tour auf den Mönch. Das es derart gut ging, darauf bin ich stolz und ist eine Belohnung. Wenn ich zu viel Energie verspüre oder einen stressigen Tag hatte, gehe ich gerne joggen, koche ich etwas Feines oder spiele Gitarre. Manchmal jammen meine Tochter und ich zusammen: Ich an der Gitarre und sie begleitet mich am Klavier.
Patricia D. Vieles konnten wir bereits während des BeWos aufgleisen. Bis heute nehme ich ambulante Gespräche im Blauen Kreuz in Anspruch. Für mich sind diese wöchentlichen Besuche bei meiner Bezugsperson wichtig. Ich erzähle ihr meine Sorgen: Wie es mir geht. Was mir Mühe bereitet. Ich nutze das Gesprächsangebot auch, wenn es mir gutgeht. Diese Stabilität hilft mir achtsam zu sein, egal welchen Stress ich habe. Denn mit einer Suchtproblematik hat man Mühe Gefühle und Probleme auszuhalten. Heute lebt meine Tochter bei mir. Für mich bedeutet das, lernen für meine Tochter da zu sein und mich dabei nicht zu verlieren.
Mark S. Um meinen Führerausweis wiederzuerhalten, musste ich die Bedingung, regelmässige Gespräche bei einem ambulanten Therapeuten wahrnehmen, erfüllen. Zum Glück durfte ich diese Sitzungen bei einem Seelsorger machen. Das half mir sehr und bestärkte mich dabei im Alltag besser zurecht zu kommen.
Alleinerziehende Mutter einer fünfzehnjährigen Tochter, konsumierte Alkohol und illegale Drogen seit sie anfangs zwanzig war. Mit vierzig Jahren, im Jahr 2010, entschied sie sich für eine Suchttherapie. Sie verbachte ein halbes Jahr in der stationären Therapie Muschle und ein Jahr im Betreuten Wohnen. Ihre Tochter wurde damals fremdplatziert. Für die Nachbetreuung nutzt sie das Gesprächsangebot des Blauen Kreuzes. Seit drei Jahren lebt Patricia D. abstinent und wohnt gemeinsam mit ihrer Tochter in stabilen Verhältnissen im Grossraum Bern. Sie arbeitet zu Teilzeit wieder auf dem erlernten Beruf in der Kundenberatung. Zudem pflegt sie regelmässig ihre Hobbies wie Sport und Musik und achtet auf einen gesunden Lebensstil.
Kam erstmals vierzehnjährig mit Heroin und Kokain in Kontakt. Er erlebte die offene Drogenszene in Zürich und verlor dabei sein soziales Gefüge. Nach diversen abgebrochenen Therapieaufenthalten und einer erfolgreich absolvierten Schreiner-Ausbildung, durchlief er von 2000 bis 2002 das Grofa-Therapieprogramm. Das anschliessende Betreute Wohnen, BeWo, brach er jedoch nach zwei Monaten ab und wurde rückfällig. Danach entschied sich Mark S. für einen weiteren dreimonatigen Aufenthalt in der Grofa. Nach einer Abstinenz von zwei Jahren erlitt er erneut einen Rückfall. Vor sieben Jahren kam Mark S. mit Hilfe des Methadon-Substitutionsprogramms von den Drogen los. Zur Nachbetreuung nutzt er regelmässige Gespräche bei einem Seelsorger. Heute lebt Mark S. suchtfrei in Luzern. Er ist verheiratet und Vater von zwei kleinen Töchtern. Zudem ist er Unternehmer eines eigenen Schreinergeschäftes. Er bekennt sich zum christlichen Glauben.
Mark S. Der Wechsel von der eng betreuten Therapie-Wohnform in das selbstständige Wohnen war schwierig. Da habe ich meinen Halt verloren. Ich vermisste das Engagement des Teams und den intensiven, persönlichen Kontakt in der Gruppe. Mir war damals nicht bewusst, wie sehr ich die Gemeinschaft brauche. Ich machte den Fehler zu früh abzubrechen, weil ich auf eigenen Beinen stehen wollte.
Patricia D. Ja, das ging mir genauso. Auch ich empfand dies als sehr anspruchsvoll. Nach dem BeWo begann die Herausforderung, umzusetzen, was ich in der Therapie gelernt hatte. Denn erst wenn du auf dich selbst gestellt bist, lernst du mit dem Alltag klarzukommen. Ich fand eine Wohnung hier in der Nähe, das gab mir Sicherheit. Aber trotzdem fühlte ich mich ab und zu überfordert. Die Probleme kamen: Ich hatte Druck bei der Arbeit, erlebte schwierige Situationen mit meiner Tochter und fühlte mich alleine. Früher hätte ich in solchen Situationen zum Alkohol gegriffen. Heute erlaube ich mir das nicht mehr, weil es mir nicht guttut. Ich lernte alte Verhaltensmuster gegen neue Strategien einzutauschen.
Mark S. Weil ich in Bern keine neuen Freunde fand. Ich kehrte nach Zürich zurück und wurde wieder rückfällig. Heute bin ich der Meinung, dass ich damals hätte länger durchbeissen müssen und versuchen, die schwierige Situation auszuhalten.
Patricia D. Ja, das kenne ich gut. Nach Austritt sich von den alten Freunden loszusagen ist nicht einfach. Plötzlich merkst du, dass du alleine dastehst.
Mark S. Hier probierte ich mit Menschen in Beziehung zu treten, die gut im Leben stehen und keine Drogen nehmen. Aber ich fühlte mich ihnen nicht zugehörig, verglich mich mit ihnen und fühlte mich minderwertig.
Patricia D. Auch das ist mir vertraut. Bei der Arbeit zum Beispiel dachte ich lange, ich sei sonderbar. Ich sei anders als die anderen wegen meiner Vergangenheit. So machte ich mir viele Gedanken: Was erzähle ich von mir? Wie reagieren die anderen darauf? Da muss man für sich einen passenden Weg finden.
Mark S. Ich stehe vollumfänglich zu dem was war. Früher verglich ich mich mit den anderen und fühlte mich schlecht. Aber heute sehe ich es anders. Eigentlich ist es doch cool, wenn man sowas erlebt hat. Das hat nicht jeder. Heute bin ich stolz darauf, dass ich mein Leben in den Griff bekam. Ich habe mir eine stabile Existenz aufgebaut.
Patricia D. Mir hilft, dass mein Vorgesetzter meine Geschichte kennt. Das entlastet mich sehr und ich kann mich offener zeigen. Zudem versuche ich mehr Geduld mit mir zu haben. Denn immer wieder holen dich Dinge ein. Du triffst alte Bekannte auf der Strasse oder erkennst Verhaltensmuster, wo du dachtest, du hättest sie bereits abgelegt. Ja, der Weg ist weit und ich brauche viel Kraft um dranzubleiben. Aber es lohnt sich.